Juli 9, 2018

Es reicht! Wenn Unrecht zur Norm wird

Der bislang größte Erfolg der AfD war nicht ihr Einzug in den Bundestag. Ihr mit Abstand größter Erfolg ist, dass man sich in diesem Land wieder hemmungslos menschenverachtend geben und äußern kann. Rassismus ist wieder ganz normales Alltagsgeschäft geworden, bei „Spitzenpolitikern“ und Normalsterblichen, bei „Liberalen“ – und selbst unter Linken.
Es bereitet schlaflose Nächte zuzusehen, wie im Mittelmeer, entlang der Routen in der Sahelzone und auf dem Balkan eine Politik des Sterbenlassens betrieben wird, mittlerweile ganz explizit und mit Ansage. Schon seit rund 20 Jahren entwickelt sich das Mittelmeer immer weiter zum Massengrab. Nur: es gab Zeiten, da waren 600 Ertrunkene vor Lampedusa 2013 noch ein Skandal. Einer, der scheinbar nicht mit dem humanitären Selbstverständnis dieses EU-Europas zusammenging. Damals fühlten sich Italien als erstes Ankunftsland und die EU gezwungen, sich selbst an der Seenotrettung zu beteiligen.
Heute kann ein italienischer Innenminister von „Menschenfleisch“ sprechen, wenn er über die Fliehenden auf dem Mittelmeer spricht – ohne wegen Hetze zurücktreten zu müssen. Auch die begrifflichen Neuschöpfungen wie Ausschiffungsplattformen erzählen von der bürokratischen Kälte der Abschottung, beraubt der Empathie, die 2015 selbst in politischen Kreisen zur Schau getragen wurde.

Menschliches Leben seiner Eigenschaften berauben, bis keine Handlung mehr als Verbrechen erscheint

Wir scheinen vergessen zu haben, was Hannah Arendt – die große Dame der Holocaust- und Antisemitismusforschung – so treffend beschrieb: Menschliches Leben kann im Zuge eines juridisch-gesellschaftlichen Prozesses so vollständig seiner Rechte und Eigenschaften beraubt werden, bis es keine Handlung mehr gibt, die an diesem Leben zu vollziehen noch als Verbrechen erscheint.
Es fällt schwer, derzeit nicht immer wieder historische Parallelen zu ziehen, zur gescheiterten Flüchtlingskonferenz vor Evian vor 80 Jahren und den dutzenden sogenannten Geisterschiffen: überfüllt mit deutschen und europäischen JüdInnen irrten die Schiffe auch damals auf den Meeren umher, ohne anlanden zu können. Entweder sie sanken oder sie waren gezwungen, umzukehren und ihre Insassen zurück in die Hände des Vernichtungssystems zu übergeben. Doch Geschichte wiederholt sich nicht, weder als Tragödie noch als Farce, denn es liegen die vielen kleinen und großen Kämpfe zwischen damals und heute, wie eben auch die Kämpfe der Migration und der Geflüchteten, die dazu geführt haben, bestehenden Grundrechten Geltung zu verleihen.

Dennoch; die Wucht und Enthemmung der politischen Reaktionen ist unfassbar, ein rechtspopulistisch getriebener Erdrutsch in ganz Europa, der kein Halten mehr zu kennen scheint. Wir bewegen uns in eine Zeit, in der europäische Grundwerte und internationale Menschenrechtspakte in den Dreck getreten werden und staatstragend zum Rechtsbruch aufgerufen werden kann. Derartige Rechtsverletzungen passieren nicht nur gegenüber Fliehenden, sondern mittlerweile wie in der Türkei, in Ungarn, Polen – und in Ansätzen in Österreich – zunehmend auch gegen gesellschaftliche Gruppen, die sich gegenüber Fliehenden solidarisch verhalten.

Die Menschen lehnen sich zurück und blockieren sogar noch den Rettungswagen

Die Seenotrettung steht vor dem Aus: Die hemmungslose Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer ist mit der kürzlichen Festsetzung des Flugzeuges Moon Bird von Sea Watch komplett. Jetzt haben die von Italien und der EU aufgerüsteten Warlords der sogenannten lybischen Küstenwache, sowie Frontex und die Anrainerstaaten Malta und Italien freie Hand, Menschen ganz ohne internationale Zeugenschaft einfach ertrinken zu lassen – binnen weniger Tage sind die Todeszahlen dramatisch gestiegen. So als würde es kein internationales Seerecht und kein Gebot der Hilfeleistung geben, ganz so als ob vor unseren Augen massenweise Menschen über die Strasse getrieben und dabei überfahren werden und wir lehnen uns zurück und blockieren sogar noch den Rettungswagen.

Selbst diejenigen Flucht-migrantInnen, die es auf die griechischen Inseln oder durch den Sahel bis nach Libyen schaffen, werden eingepfercht in Lager, die jeder Beschreibung trotzen. Die Lager Libyens wurden von internationalen Organisationen wiederholt als Zwangsarbeits-, Folter- und Vergewaltigungscamps bezeichnet. Doch auch in Deutschland soll die Unterbringung in Massen-Lagern weiter verschärft werden und vor allem der Abschreckung dienen – Europa: Land der Lager, in denen Menschen wieder festgesetzt werden, um bürokratische Prozeduren des Ausschlusses schneller abwickeln zu können. Lager erscheinen heute als das einzig probate Mittel, fliehende Menschen aus dem globalen Süden aufzuhalten – Menschen, die aufbegehren gegen den Entzug von Lebensmöglichkeiten durch unser raubbauendes Wirtschaftssystem und unsere imperiale Lebensweise.

Wir werden Rassismus und Entrechtung konsequent beim Namen nennen

Doch es gibt Widerstand gegen diesen Verfall der Humanität. Kleinere und größere
unsichtbare und sichtbare solidarische Praktiken, die Proteste gegen die Abschiebemaschinerie oder die Bürokratie der Dublin-Regelung, und gegen das rassifizierte Auseinanderdividieren von Menschen; von der Erklärung verschiedener solidarischer Städte, weiterhin offene Häfen zu bieten und Menschen aufzunehmen, wie sie die Kampagne der Seebrücke anvisiert, über Bürgerasyle, law clinics und Medinetze, bis zu Asylcafés und psychosozialen Beratungsstellen. Doch vor allem ist es der tagtägliche post-migrantische Alltag in unseren Städten, die unsere Gesellschaft vielerorts längst zu einer Gemeinschaft ohne Mehrheit hat werden lassen – zu einer Gesellschaft der Vielen, ob es den Seehofers, Merkels, den Lindners oder den Wagenknechts dieser Welt passt oder nicht. Wie in der Erklärung „Solidarität statt Heimat“ von Medico International, dem Institut für Solidarische Moderne und dem Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung ausgeführt, solidarisieren wir uns mit diesen Initiativen:
„Wir werden Rassismus und Entrechtung konsequent beim Namen nennen. Wir werden uns dem neuen völkischen Konsens entziehen und uns allen Versuchen entgegenstellen, die Schotten der Wohlstandsfestung dicht zu machen. Unsere Solidarität ist unteilbar – denn Migration und das Begehren nach einem guten Leben sind global, grenzenlos und universell!“

Ein Kommentar von Prof. Dr. Sabine Hess, Sprecherin des „Netzwerks für kritische Migrations- und Grenzregime-Forschung“