Migrationsforscher*innen & Aktivist*innen veröffentlichen Statement zur #Türkei und dem heutigen #Steinmeier Besuch https://t.co/yHCZyyUdJw pic.twitter.com/sJZ2E0LBdg
— kritnet (@kritnet) 15. November 2016
Die Türkei driftet in beängstigender Geschwindigkeit in Richtung eines autoritären Regimes, das zunehmend demokratische Prinzipien missachtet. Mithilfe des nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli verhängten Ausnahmezustands stellt die Regierung unter Präsident Erdoǧan die politische Opposition kalt, lässt ein kritisches Medienhaus nach dem anderen und hunderte Nichtregierungsorganisationen schließen. Meinungs- und Pressefreiheit sowie die pluralistische Gesellschaft des Landes sind extrem bedroht. Angesichts dieser bestürzenden Entwicklung fordert das Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet) die Bundesregierung auf, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die demokratischen Kräfte in der Türkei und im Exil zu unterstützen und zu schützen.
Kritnet beobachtet die Entwicklungen in der Türkei seit langem mit großer Sorge. Nach den Parlamentswahlen im Juni 2015, in der die AKP die absolute Mehrheit verfehlte und die ökosoziale, antikapitalistische, feministische und pro-kurdische HDP den Einzug ins Parlament schaffte, hat die Regierung durch massiven Einsatz des Militärs und eklatante Menschenrechtsverletzungen den Konflikt im Südosten des Landes erneut angeheizt und eine friedliche Lösung vorerst zunichte gemacht. Nach den herbeigeführten Neuwahlen im November 2015 kriminalisierte die AKP-Regierung die über 2.200 kritischen Wissenschaftler*innen, die sich seit Januar diesen Jahres als „Academics for Peace“ für eine friedliche Lösung in den kurdischen Gebieten einsetzen. Spätestens seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 führt sie einen Feldzug gegen kritische Wissenschaftler*innen, der sie pauschal eine Unterstützung von Terrororganisationen oder der Gülen-Bewegung unterstellt.
Dieser Linie folgend geht sie nun gegen alle gesellschaftlichen Kräfte vor, die ihr nicht gelegen kommen, und betreibt einen massiven Umbau sämtlicher staatlicher und nicht-staatlicher Institutionen zugunsten der AKP: Sie ließ 186 Medien schließen und viele Journalist*innen inhaftieren, von denen derzeit 144 in türkischen Gefängnissen sitzen. 40.000 Menschen wurden seit dem Putschversuch am 15. Juli in Untersuchungshaft genommen und gegen mehr als 80.000 wird ermittelt. Sogar über die Wiedereinführung der Todesstrafe wird derzeit verhandelt. Faire Prozesse können kaum erwartet werden, da durch den erzwungenen Austausch von Anwält*innen und Richter*innen die unabhängige Justiz faktisch ausgeschaltet wurde.
Über 50.000 Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes wurden entlassen. Das Internet wird in Teilen und zeitweise im gesamten Land eingeschränkt oder gesperrt, was einen massiven Einschnitt in die Meinungs- und Informationsfreiheit bedeutet. Der Ausnahmezustand ermöglicht es der Regierung, die ständigen Angriffe auf die Pressefreiheit und die politische Opposition zu legitimieren. Über ein Notstandsdekret kann Erdoğan mittlerweile auch die Universitätsrektor*innen selbst ernennen, die normalerweise über demokratische Strukturen gewählt werden. Auch vor Nicht-Regierungsorganisation macht die Regierung keinen Halt, wie die angekündigte und bereits begonnene Schließung von bislang über 300 sozialen und politischen Organisationen zeigt.
Weiterhin darf die aggressive Außenpolitik Erdoǧans, bei der offen von der Ausdehnung der Landesgrenzen gesprochen wird, nicht aus den Augen verloren werden.
Bis Ende September diesen Jahres ersuchten bereits 3.800 Menschen aus der Türkei in Deutschland Asyl, mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2015 insgesamt, was ein klarer Ausdruck der immer stärker werdenden Unterdrückung ist.
Forderungen
Wir fordern die Bundesregierung auf, klare Kritik an der momentanen Situation in der Türkei zu üben, welche jedoch nicht auf der Ebene von Lippenbekenntnissen stehen bleiben darf. Vielmehr müssen ihr klare Maßnahmen folgen. Das Übernehmen von Patenschaften durch Bundestagsabgeordnete und die Orientierung an Programmen des Netzwerks ’scholars at risk‘ an manchen Universitäten können als ein erster Schritt gesehen werden, reichen allerdings bei weitem nicht aus.
Wir fordern die Bundesregierung und den Bundestag auf, sich für die Aufhebung des EU-Türkei Deals einzusetzen. Flüchtende Menschen dürfen nicht als Schutzschilde für eine autokratische Politik missbraucht werden. Derartige Entwicklungen müssen sofort gestoppt werden. Dies darf jedoch nicht den kompletten Abbruch der EU-Beitrittsverhandlung zur Folge haben, da dies eine Isolation der ohnehin geschwächten Opposition und progressiven Teile der Gesellschaft zur Folge hätte.
Der deutsche Waffenexport in die Türkei ist in den letzten 1,5 Jahren dramatisch gestiegen. Besonders im Lichte der Entwicklungen des letzten Jahres ist das in keiner Weise hinnehmbar. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, ihren Einfluss zu nutzen und den Waffenexport in die Türkei zu unterbinden.
Schon 3.800 Menschen aus der Türkei haben bis Ende September Asylanträge in Deutschland gestellt. Wir fordern die Bundesregierung, die zuständige Parlamentariergruppe sowie die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration dazu auf, ein spezielles Programm für Schutzsuchende aus der Türkei zu erarbeiten.
Wir bekommen die tägliche Angst unserer Kolleg*innen mit, denn mittlerweile kann es jeden und jede treffen. Gerade denjenigen, welche die Friedenserklärung im Januar 2016 unterzeichnet haben, wird gekündigt und sie dürfen nicht mehr ausreisen. In Folge des Putsches haben bereits 6.337 wissenschaftliche Mitarbeiter*innen ihren Job verloren. Daher fordern wir wissenschaftliche Einrichtungen dazu auf, für sie weitere Stellen in Deutschland zu schaffen.
Kritnet ist ein Zusammenschluss von über 600 Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen und Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), der sich 2008 in München gegründet hat.
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