Oktober 13, 2014

Kollidierende Kartografien, migrating maps

Maribel Casas-Cortés, Sebastian Cobarrubias, Charles Heller,
Lorenzo Pezzani

Because power, impotence, and resistance take place in space and assume specific forms within it, maps can lend a spatial perspective to political analysis.
– AnArchitektur

Even though the map is not the territory, to make maps is to organize oneself, to generate new connections and to be able to transform the material and immaterial conditions in which we find ourselves immersed. It isn’t the territory but it definitely produces territory.
– Cartografías Tácticas

We engage in mapping in order to render alternative images of spatial and social relations; destabilize centered and exclusionary representations and construct unorthodox imaginaries and practices of collective struggle […].
– Counter Cartographies Collective 3.Cs.

It is time to draw new maps, maps of resistance that can be used to attack the visible and invisible fences and walls, to tear them down or sail around them quietly, to hollow them out and to undermine them.
– NoLager

Mobilitäts- und Kontrollpolitiken an den EU-Außengrenzen und das Problem des Mapping

Die kritische Kartografie hat in den vergangenen Jahren darauf verwiesen, dass Mapping keineswegs eine Technik des passiven Abbildens ist, sondern aktiv an der Produktion neuer Formen des Sehens und Seins beteiligt ist und Differenzen, Identitäten und Grenzziehungen produziert. Mapping geht in dem Sinn dem Territorium voraus (Winichakul 1994), als dass durch dieses Praxis eine Grenzlinie geschaffen wird, die die soziale und natürliche Welt ›geo-kodiert‹ (Pickles 2004; Olsson 2007). Die Erkenntnis, dass Kartografie ein eigener Prozess der Herstellung von ›Welt‹ ist, haben sich historisch wie aktuell emporstrebende Mächte zu Nutze gemacht, indem Karten dazu dienten, territoriale und soziale Verwerfungen neu anzuordnen (Harley 1989). So war die moderne Kartografie zum Beispiel grundlegend daran beteiligt die koloniale Teilung der Welt zu legitimieren indem sie Vorstellungen und Praktiken geopolitischer Grenzen kartographisch aufzeichnete.
Dennoch dient die Kartographie nicht immer der machtvollen Intervention, sondern man sollte sich stets der Ambivalenz von Kartierungspolitiken bewusst sein, die zum Teil ganz unterschiedliche und sogar gegensätzliche Wirkungen erzielen. An anderer Stelle haben einige von uns dargestellt, wie Karten auf unterschiedliche Art und Weise funktionieren – je nach der eingenommenen Perspektive, verwendeter Kodierung, ihrer Verwendung und, ganz besonders, je nach dem von wem sie für welchen Zweck produziert wurden (Casas-Cortés, Cobarrubias, Pickles 2013). In den vergangenen Jahren haben sich eine ganze Reihe von Akteur_innen aus dem Umfeld der sozialen Bewegungen das Instrument des Mapping für ihre eigenen Ziele wieder-angeeignet (Holmes 2007; Cobarrubias 2009; Walters 2008; Mason-Deese, Dalton 2012; Stallmann 2012).
Die Rolle der Kartierung im Verhältnis zur Migration und zur Mobilitätspolitik an den EU-Außengrenzen ist ein besonders bezeichnendes Beispiel für die generative Macht von Kartierungen und wie diese soziale und räumliche Beziehungen herstellen, also reale Effekte in der Welt nach sich ziehen. Im Fall der EU-Grenze wird die Kartografie tatsächlich sowohl genutzt, um die Mobilität zu kontrollieren und zu steuern, als auch als Instrument der Verteidigung, des Ermöglichens und der Darstellung der Grenzüberschreitung.
Letztgenannte Karten verteidigen etwas, das von Bewegungen und Forschenden Freedom of Movement genannt wird (Fadai’at 2006; Pecoud, Guchteneire 2009) oder, was in rechtlichen Begriffen historisch als Ius Migrandi, das »Recht zu migrieren«, bekannt war und erst vor Kurzem von engagierten Rechtswissenschaftler_innen wiederentdeckt wurde (Chueca 2007, 2008). In diesem Artikel konzentrieren wir uns auf die Rolle, die Karten und Kartierungen innerhalb von Migrationspolitik spielen, also innerhalb des umkämpften Felds von Aktionen und Beziehungen, die darüber bestimmen, wer unter welchen Bedingungen migrieren kann. Dabei behandeln wir sowohl den Stellenwert des Mapping innerhalb des gegenwärtigen Grenzregimes als auch sein Potential, sich diesen staatlichen Kontrollpraktiken entgegenzustellen.

Mapping als Intervention: Der Clash der Kartierungen
Seit der Entstehung des EU-Binnenmarktes und der Personenfreizügigkeit Mitte der 1990er Jahre dienen die EU-Außengrenzen als Laboratorium, in dem neue Formen souveräner und supranationaler Staatlichkeit entwickelt, erprobt und implementiert werden. Die Überwachung der Außengrenzen basiert dabei auf einer besonderen Raumvorstellung – einer Idee des Raumes, die den »methodologischen Nationalismus« und die territorialen Epistemologien überwindet und in einem offenen Raum agiert, der weder von nationalstaatlichen Grenzen noch durch Land- oder Seegrenzen eingeschränkt wird. Diese Vorstellung ermöglicht die Implementierung einer Regierung der Einwanderungsrouten, die quer zu den verschiedenen geographischen und politischen Räumen verläuft und sich in solchen Grenzkontrollterminologien niederschlägt, wie dem »routes management«, das auf der Sichtbarmachung der klandestinen, transnationalen Routen der Migrant_innen basiert oder dem »integrierten Grenzmanagement«, also der Kontrolle vor, an und hinter der Grenze.
Wie wir weiter untern ausführen, spielt die Kartografie in dieser neuen Raumvorstellung sowie in der Implementierung der neuen Gouvernementalität der Migration in den ausgedehnten und flexiblen borderlands der EU eine Schlüsselrolle. Daten, die zukünftige Entwicklungen prognostizieren und auf deren Grundlage die Bewegungen von Migrant_innen an bestimmten Knotenpunkten und Durchgangsorten quantifiziert und kartografiert werden, sind zentral für den Versuch der Mobilitätskontrolle. Die Überwachungssysteme der Meeresgrenzen der EU operieren dabei über mehrere Schnittstellen der Kartierung, die wiederum ein integraler Bestandteil des Abfangens und Festsetzens illegalisierter Migrant_innen sind.
Die unterschiedlichen Kartierungspraktiken und Sichtbarkeitsregime, mit deren Hilfe Grenzagenturen Migrant_innen abfangen, sind aber auch umkämpft. Eine ganze Reihe kritischer Kartierungspraktiken dokumentieren den Wandel des EU-Grenzterritoriums und navigieren und unterminieren das Grenzregime. Gegen-Kartografierungen und Mapping-Praktiken sozialer Bewegungen werden zu einem Mittel, die Grenzen zu »besetzen«, zu unterminieren und intervenieren damit direkt in die Produktion der räumlichen Architektur (Casas, Cobarrubias 2007; Walters 2008). In den vergangenen Jahren wurde das aktuelle Grenzregime in verschiedenen Kartierungen kritisch analysiert, infrage gestellt und destabilisiert. Dabei wurde der Versuch unternommen, eine andere Form des europäischen Migrationsregimes zu denken. Die Kartierung der langen und verwirrenden Abschiebeverfahren von AnArchitektur1 dienen als Navigationsinstrument, das die Leser_in durch die langen und verwirrenden bürokratischen Schritte und die zahlreichen Orte des Transits führt, der in einem Abschiebeverfahren durchgangen wird; andere, wie etwa Hackitecturas Reproduktion der Straße von Gibraltar, setzt die Beziehungen zwischen den beiden Küstenregionen anstelle der sonst üblichen Einteilung in ›wir‹ gegen ›die‹ und entwirft damit das Bild einer Grenzregion als einer Zone enger Verflechtungen und ermöglichender Verbindungen. Die MigMap-Serie vermittelt ein dynamisches, schwindelerregendes Verständnis der Matrix des Grenzregimes und destabilisiert damit den offiziellen starren und geradlinigen Diskurs der EU-Migrationspolitik; die Grenzkarten von Le Monde Diplomatique und der jährlich erscheinende Migrationsatlas von Migreurope agieren als Mechanismen der Gegeninformation und Anklage, indem sie die Menschenrechtsverletzungen gegenwärtiger Migrationspolitik (die Zahl der Toten an der Grenze, die Anzahl der Auffanglager, usw.) kritisch visualisieren.
Diese engagierten und aktivistischen Kartierungspraktiken treten der offiziellen Kartografie der EU und ihrer Grenzschutzagenturen zunehmend entgegen, resituieren Debatten und Praktiken des migrationspolitischen Mainstream und etablieren gegensätzliche Visionen und Inszenierungen der Grenze. Diese Entwicklung könnte man auch als »Gefecht der Kartografien« (Cobarrubias 2009; siehe auch Holmes 2004) bezeichnen – eine Schlacht, in der das Beharrungsvermögen von Grenzziehung und bestehender Ordnung mit dem Bedürfnis, diese Barrieren aufzulösen und neue Flüsse zu zeichnen, permanent kollidiert.

Neu gerahmt: Die Migration der Karten
Die Kartierungspraktiken sind allerdings nicht hermetisch voneinander getrennt, sondern basieren auf den gleichen epistemologischen und technischen Mitteln. So kann es passieren, dass die Karten zwischen verschiedenen und zum Teil entgegengesetzten Feldern »migrieren«. In diesem Prozess verkehrt sich der Nutzen, den die Autor_innenkollektive ursprünglich im Sinn hatten. Dabei ist die Politik relevant, die in der Zirkulation und Anwendung von Wissen und Repräsentation entsteht, und eben nicht durch ihre ursprüngliche Intention vorgegeben ist. So kann eine identische Karte abhängig von ihrem Kontext und ihrer diskursiven Rahmung an der Formierung radikal gegensätzlicher Effekte beteiligt sein. Insofern ist es Teil des »Gefechts« der Kartografien, sich bestehende Karten anzueignen und ihre ursprüngliche Funktion zu unterwandern. Diese Zirkulation ist jedoch für beide Seiten nicht ohne Risiko, da ein Teil der ursprünglichen Machtverhältnisse und Epistemologien auch in einem anderen Set von Diskursen und Praktiken fortbesteht. Deshalb erfordert eine kritische Praxis der Kartografie ein gründliches Verständnis des Netzes wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Beziehungen, in das die jeweiligen Karten eingebettet sind und auf dem ihre mögliche Verwendung und der erkenntnistheoretische Rahmen basiert. Nur dann ist eine Einschätzung ihres subversiven Potentials möglich.
In der Spannung zwischen kollidierenden Zielsetzungen und Effekten dieser umkämpften Kartierungen geht es um die Produktion und Instantiierung der Grenze. Wie und was sind Möglichkeiten, Grenzen durch Praktiken des Mapping umzuschreiben und zu unterwandern? Wie kann dies funktionieren, wenn Grenzen nicht an ihrem üblichen Ort liegen, sondern aus dem Raum nationaler Grenzziehungen heraus verlagert wurden? Wie könnten Kartierungen und Gegen-Kartierungen externalisierter Grenzpraktiken aussehen, wenn die Akteur_innen, die in ihnen operieren, nicht auf nationale Überwachungsagenturen und Migrant_innen reduziert werden, sondern eine Fülle transnationaler Akteur_innen beinhalten?
Wir werden diesen Fragen anhand der Diskussion zweier »kollidierender, migrierender« Kartierungsgeschichten aus unseren Forschungs- und Kartierungsprojekten zum Thema Externalisierung nachgehen. Im ersten Fall diskutieren wir die Kartierung von Migrationsrouten durch die Migrant_innen selbst wie auch durch internationale Organisationen, die an der Absicherung des Migrations- und Grenzregimes beteiligt sind. Im zweiten Fall werden wir die Echtzeitkartierungen der maritimen Überwachungsräume und Formen der Gegenüberwachung durch Aktivist_innen und Forscher_innen darstellen, die Menschenrechtsverletzungen an den Seegrenzen der EU dokumentieren.
Von verkörperten Wegen zum Management der Reiserouten
Während eines Feldaufenthalts in Marokko 2005 wurde einem von uns eine CD mit Fotografien internierter Migrant_innen in Oujda ausgehändigt, einer Stadt an der Grenze zu Algerien, durch die viele subsaharische Migrant_innen nach Marokko einreisen – oder durch die sie zurückgeschoben werden. Die Fotosammlung beinhaltete unter anderem eine handgezeichnete Karte von der
Sahara und Nordafrika (siehe http://kritnet.org/2014/kollidierende-kartografien), die in einer der Taschen der Migrant_innen gefunden worden war. Es ist eine migrantische Wüstenkarte, die das kollektive Wissen der Grenzüberschreitung wiedergibt Mit einem schwarzen Kugelschreiber auf weißes Papier von Hand gezeichnet, zeigt sie Punkte, die Städte repräsentieren und die durch Linien verbunden sind. Auf der Karte finden sich keine Pfeile, sie enthüllt keinerlei Direktionalität. Ausgangs- und Zielort bleiben unbekannt und es scheint so, als verzeichne sie mögliche Pfade (in vollen Linien) – die üblichen Migrationsrouten, die die meisten Migrant_innen von südlich der Sahara wählen –, die sich über vier nationalstaatliche Territorien (unterbrochene Linien) erstrecken, und die zu einem stillen Hintergrund verschmelzen. Ohne jede individuelle Wegmarke zeigt diese Karte eine Ansammlung von Wissen, die aus den vielen Versuchen der Migrant_innen entstanden ist, über diese verschiedenen Länder hinweg eines Tages die andere Seite des Mittelmeeres zu erreichen. In dieser Karte sind nicht die Grenzübergänge das Bedeutendste, sondern die Pfade und vielerlei Reiserouten, die es den Migrant_innen ermöglichen, ihre Reise anzutreten und ihr gewünschtes Ziel zu erreichen.
Diese fragile Karte ist sowohl Produkt wie auch Ausdruck der Zirkulation und Grenzüberschreitung von Wissen, das in den Netzwerken der Migrant_innen als Navigationsinstrument entsteht. Wie Mehdi Alioua schreibt, ist es das soziale Netzwerk, das schrittweise durch die Migration geflochten wird, »das es ihnen ermöglicht, verschiedene Reiseabschnitte zu verbinden, über die zu durchreisenden Regionen Informationen zu erhalten und von Kollektiven zu erfahren, die ihnen unterwegs möglicherweise helfen können« (Alioua, Heller 2013). Das kollektiv produzierte Wissen über die Grenze, das Migrant_innen miteinander teilen, unterminiert damit die ausschließende Logik des Grenzregimes (Papadopoulos, Tsianos 2013).
Diese Karte könnte, indem sie Ausdruck und Beitrag dieses Teilens ist, in Anschluss an Deleuze und Guattari als Produkt einer »nomadischen Wissenschaft« verstanden werden: »A distinction must be made between two types of science [nomadic and royal], or scientific procedures: one consists in ›reproducing‹, the other in ›following‹. The first involves reproduction, iteration and reiteration; the other, involving itineration, is the sum of the itinerant, ambulant sciences. […] With the legal [royal-reproducing] model, one is constantly reterritorializing around a point of view, on a domain, according to a set of constant relations; but with the ambulant [nomadic-following] model, the process of deterritorialization constitutes and extends the territory itself.« (1987: 372, unsere Hervorhebungen). Tatsächlich geht der Raum der Zirkulation, den die Karte verzeichnet, ihr weder voraus, noch repräsentiert er sie, sondern die Karte entsteht durch die kollektive Zirkulation innerhalb dieses Raumes. Für den in ihr erfassten ausgedehnten Raum sind feste Staatsgrenzen sekundär. Es ist eine offene Karte – wäre sein_e Zeichner_in nicht verhaftet worden, hätte er oder sie weitere Punkte und Linien ergänzt. Während aber das Konzept der nomadischen Wissenschaft meist normativ positiv besetzt ist, scheint seine klare Opposition zur »königlichen Wissenschaft« irreführend. Denn Migrant_innen verfügen keineswegs über das Monopol solcher deterritorialisierten geographischen Vorstellungen. Wie das weiter unten vorgestellte I-Map-Projekt verdeutlicht, ersetzen auch Staaten und zwischenstaatliche Agenturen zunehmend ein territoriales Denken gegen die Vision eines offenen Raumes, der von Migrationsrouten durchschnitten wird.

Die I-Map des ICMPD: Eine interaktive Kartografie zur Kontrolle der Reisewege transnationaler Migrant_innen
Es sind die gleichen Reisewege, an denen die jüngsten Strategien der EU-Grenz- und Migrationskontrollagenturen unter dem Label »Politiken der Grenzexternalisierung«6 und Management von Migrationsrouten ansetzen. Diese Strategie zielt auf die Erkundung und das Management der Herkunft und der Transitzonen der Migrant_innen. Es findet eine Verschiebung von der Grenze als Ansatzpunkt der Kontrolle hin zu den Ausgangsorten und den Reisewegen der Migrant_innen statt. Dies ist eine Neuorientierung im Grenzmanagement von der Verteidigung einer Linie auf die Kontrolle von Knotenpunkten entlang einer Reiseroute. Die kartografische Initiative I-Map verfolgt dieses Projekt der grafischen Erfassung von »Migrationsrouten«. Das Projekt entstand aus dem Mediterranean Transit Migration Dialogue, einem zwischenstaatlichen Prozess der Mittelmeeranrainerstaaten, der vom International Center für Migration Policy Development (ICMPD) in Kooperation mit FRONTEX und EUROPOL initiiert wurde. Der Hauptkoordinator des I-Map-Projektes, das ICMPD, wurde 1993 in Wien gegründet und bietet im Bereich Migration und Asyl Politikberatung und -entwicklung an, bildet staatliche Akteur_innen aus und ist in der Projektbetreuung operativ tätig (siehe Hess, Kasparek 2010; Hess 2010). Das ICMPD war eine der ersten Institutionen, die im Bereich der Grenzkontrolle eine Zusammenarbeit zwischen EU-Staaten und Nicht-EU-Staaten7 vorschlug; so wurde es im Bereich des Grenzmanagement zu einem entscheidenden »Implementierungspartner« der EU-Zusammenarbeit mit Drittstaaten, der die Europäische Kommission, den Rat und zahlreiche Mitgliedsstaaten berät.
Beinahe wie die digitale Version der Wüstenkarte der Migrant_innen, ist auch das I-Map-Projekt eine interaktive Kartografie, die die verschiedenen, sich überschneidenden Migrationsrouten verzeichnet. Während sich das Projekt zu Anfang auf die eigentlichen Grenzzonen Europas konzentrierte, dehnte es sich zunehmend auf Regionen Afrikas, des Mittleren Ostens und Eurasiens aus. Hauptmotivation derjenigen, die das I-Map-Projekt initiierten ist der Wunsch, Informationen und strategische Antworten auf die Verschiebung der Grenze nach Süden und Osten zu entwickeln und bestimmte Punkte oder Linien durch eine Reihe beweglicher Reiseabschnitte oder »Routen« zu ersetzen (Bensaad 2004). Die I-Map wurde entwickelt um Grenz- und Migrationsmanagement-agenturen für die Komplexität von Migrationsströmen zu sensibilisieren. Wie einer der offiziellen Vertreter des EuropeAid-Finanzierungsbüros es ausdrückt: »[I-Map] stellt ein Instrument bereit, mit dessen Hilfe Partnerländer Informationen auf eine Art und Weise austauschen können, dass eine neue Vision der Migrationsfrage [entsteht], die es erlaubt die Grenze nicht mehr aus einer nationalen Perspektive oder einer Sender/Empfänger-Perspektive zu betrachten« (Interview mit EuropeAid, Februar 2011). Das I-Map-Projekt förderte so ein neues, kartografisches Denken der Grenze, ein Denken, dass anstatt auf der Verhärtung von Linien auf der Kontrolle von Strömen basiert. Es ist aufschlussreich, sich dies unter dem entsprechenden Link anzuschauen.
I-Map versucht der Entwicklung der trans-saharischen und trans-mediterranen Migrationsrouten seit den frühen 2000er Jahren bis in die Gegenwart zu folgen und umfasst grafisch die Anzahl erfasster Migrant_innen und Symbole, die für bilaterale oder multilaterale Operationen des Migrationsmanagement und des Abfangens von Migrant_innen stehen. Wie einer der ICMPD-Koordinator_innen des I-Map-Projektes erklärte: »Die Animation in der I-Map zeigt, wie sich diese Routen anlässlich großer politischer Ereignisse oder bilateraler Kooperationen verschieben« (ICMPD, Interview, Wien, September 2011). I-Map ist insofern interaktiv, als dass sie regelmäßig aktualisiert und an die komplexen und turbulenten Ströme der Migration angepasst wird. In diesem Sinn dient sie als angepasstes Modellierwerkzeug zur Erfassung dessen, was noch unbestimmt ist. I-Map hat es der »Europäischen Migrationspolitik [ermöglicht], flexibel, deterritorialisiert und vernetzt zu agieren« (Hess 2010: 111).
Aus unserer Sicht sollte die Entwicklung der I-Map als kartografisches Instrument parallel oder sogar als Antwort der Entstehung von gegen-kartographischer Theorie und Praxis verstanden werden. Wie der kritische Migrationsforscher Sandro Mezzadra anmerkt:
»The unpredictability and randomness of the movements of the migrations are explicitly assumed as central challenges by the cartographers of the ICMPD, who in turn are attempting to lay down new instruments of knowledge suited to the definition of a new model of migration governance, more accurately corresponding to the needs of the ›flexible‹ labour market. And they seem to actively make use of the numerous experiments of ›counter-cartography‹ born in the last few years from the confluence of political activism and artistic practices in anti-racist and migrant movements« (2009).
In dieser Lesart provoziert das Bedürfnis ein nicht-statisches »Subjekt«, wie die gegenwärtigen Migrationsströme in Richtung der EU, zu kartieren, ein neues Engagement mit der Praxis von nomadischer Kartografie. Gleichzeitig eröffnet sie die Möglichkeit des Ziehens neuer Linien in einem Territorium, das nationalstaatlich strukturiert ist. Obgleich es dabei bleibt, dass das Ziel dieser Kartierung Kontrolle und nicht Bewegung ist, geschieht dies mit einer extrem flexiblen und attraktiven Netzwerkästhetik. Während die I-Map die ständige Reproduktion nationalstaatlicher Grenzen hinter sich lässt, formiert sie die Konturen eines neuen Überwachungsapparates der vielfältigen Reisewege.
Kopien der I-Map hängen in zahlreichen FRONTEX- und Grenzkontrollbüros aus. Die I-Map zielt auf Sicherheit, das Aufhalten oder Umleiten irregulärer Einwanderung ab (Interview ICMPD, September 2011; Interview ICMPD, April 2012). Sie wird von den Mitgliedsstaaten, den Nachbarstaaten und den Nachbar_innen der Nachbar_innen verwendet, um das gemeinsame Migrationsroutenmanagement zu harmonisieren. Und dennoch zielt die I-Map als Teil eines »transnationalen Grenz- und Ordnungsregimes« weniger auf ein ›Ende‹ der irregulären Migration als darauf, die Turbulenz der Migration zu zähmen und zu kanalisieren (wie wir auch an anderer Stelle argumentieren, siehe Casas et al. im Erscheinen). Im Anschluss an die These der Autonomie der Migration, agiert I-Map als Apparat, der den Überschuss der Migrationsströme erfasst und sich damit perfekt in die Verschiebung des offiziellen EU-Sprachgebrauchs von ›Kontrolle‹ zu ›Management‹ einpasst (siehe Hess 2008).
Die Logik des Identifizierens, des Spuren-Verfolgens und des Handelns entlang migrantischer Routen wurde vor allem vor der Küste Westafrikas in FRONTEX- Einsätzen wie HERA, SEAHORSE und WEST SAHEL erprobt. Unter der Führung der spanischen Guardia Civil kooperieren in diesen Operationen transnationale Grenzschutzteams, einschließlich europäischer und afrikanischer Sicherheitskräfte. Ihr Ziel ist es, Migrationsströme (die ihrer Annahme nach die EU zum Ziel haben) in den sogenannten Transitländern und weitab der europäischen Außengrenzen aufzuspüren und aufzuhalten. Wie die offiziellen Daten der spanischen Sicherheitskräfte zeigen, verbreiteten sich in diesem Areal Westafrikas in den vergangenen Jahren schnelle Einsatzkontrollen der Transitmigration: Sie zeigen wie die Zahlen der Grenzübertrittsversuche auf bestimmten Routen zurückgingen. Vor allem im Fall der Kanarischen Inseln sanken sie von fast 32.000 auf 2.000 aufgegriffene Migrant_innen, was darauf hindeutet, dass die Menschen in Westafrika angesichts der Aussicht aufgehalten und zur Küste zurückgeschoben zu werden, erfolgreich entmutigt wurden, diese atlantische Route zu wählen. Auf Grundlage dieser Daten verkündet die spanische Guardia Civil stolz »die atlantische Route [in die EU] ist geschlossen (…) sie sollte auf der I-Map nicht mehr verzeichnet werden« (Interview mit einem Mitarbeiter der Guardia Civil, Februar 2012).
I-Map ist gewiss ein Kontroll- und Steuerungsinstrument und ein Aspekt eines neu entstehenden Kontroll- und Kooperationsapparates, der Interventionen wie die Operation Seahorse der Guardia Civil hervorbringt und zum Ziel hat, »Migrationsrouten abzuschneiden«. Nichtsdestotrotz, verdeutlicht die I-Map, indem sie den dynamischen Charakter von Migration abbildet, die Notwendigkeit, Grenzräume auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen und in verschiedenen Konfigurationen zu denken. Auch in anderen »nomadischen« Kartierungen von Reisewegen und Strömen wird dieser Komplexität Rechnung getragen, obgleich von radikal anderen Akteur_innen mit einer vollkommen anderen Zielsetzung. Unser nächstes Beispiel zeigt, wie organisierte Migrant_innen die ICMPD-Karte ihrerseits nutzen, um ihre Reiserouten und Unterstützungsnetzwerke aus einer Perspektive der ersten Person einzuzeichnen, Grenzkontrollen zu identifizieren und ihre eigene Bewegungsfreiheit zu fördern. Der Konflikt darum, wie Grenzen und Migrationen gedacht werden, wird über Karten ausgetragen, die ein integraler Bestandteil des Handelns sind und Mobilität entweder ermöglichen oder einschränken und damit radikal verschiedene Weltvorstellungen heraufbeschwören.

Andere Reiserouten: Ein Blick zurück auf die I-Map
Die Komplexität von Migration und die Spannungen innerhalb einer Politik der Mobilität wurden offenbar während eines Screenings der I-Map mit Mitgliedern des Red de Apoyo a Sin Papeles de Aragón (im Folgenden La Red), einer Selbstorganisation undokumentierter Migrant_innen in Zaragoza, Spanien. Die Ambivalenzen und Widersprüche, die in der I-Map unsichtbar gemacht werden, wurden gleich in den ersten Reaktionen auf die I-Map deutlich: »diese Karte löscht alle Migrationsbewegungen innerhalb und zwischen den Ländern Afrikas aus und zeigt allein die Wanderungen in Richtung Europa«; »wenn sie es schaffen, diese Routen zu kontrollieren, werden sich die Linien woanders multiplizieren«; »es sieht wie der Versuch aus, das Unmögliche zu tun: Etwas zu kontrollieren, das in ständiger Bewegung ist«; »diese Karte ist unheimlich und frustrierend, du fühlst dich, als seiest du unter der ständigen Beobachtung von Big Brother und vor allem dann, wenn du versuchst, unsichtbar zu sein«; »es entsteht so ein Eindruck der Geradlinigkeit, als ob die Reise im Modus eines ›ein für alle Mal‹ unternommen würde – ohne all die Verschiebungen, Wartezeiten, usw.«; »es ist eine Tabu-Karte: All das Geld, das Menschen verdienen mussten, die persönlichen Ressourcen und das Blut, das die Menschen auf dem Weg lassen, bleibt in diesen Reiserouten unerwähnt«.
Diese Reaktionen auf die I-Map gaben den Anstoß für ein eigenes Kartierungsprojekt des Migrant_innenkollektivs. Entgegen der visuellen Reduktion der Komplexität der I-Map und ihrem Versuch, ihr Leben zu definieren, fasste man den kollektiven Beschluss »unsere eigene Karte der Migrationswege« zu zeichnen. In einer Serie von zweiwöchentlich stattfindenden Workshops, die wir im November 2011 begannen, führten wir eine interne Debatte, in der die Annahmen über Legalität, die Mobilität der Migrant_innen und die Durchlässigkeit (oder nicht) von Grenzen infrage gestellt wurden. Während des ersten Workshops wurde die I-Map auf ein großes Stück Papier, das an einer Wand des sozialen Zentrums Pantera Rossa befestigt war, projiziert. Dann zeichneten wir auf Grundlage der existierenden I-Map die kontinentalen Konturen, um an den unmittelbaren Reaktionen, die die I-Map bei dem Kollektiv zuerst ausgelöst hatten, weiterzuführen und zu vertiefen. Eine Reihe von Symbolen und Fragen, die sich aus früheren Diskussionen ergeben hatten, wurden verteilt, um die Reiseroute jedes Mitglieds der Gruppe zu beschreiben. Weitere Workshops und Diskussionen ermöglichten es den Teilnehmenden, ihre Reiseerlebnisse miteinander zu teilen, indem sie ihre Routen in der Karte einzeichneten und eine Reihe Symbole entlang ihres Reiseweges platzierten. Diese Symbole zeigten neben verschiedenen Transportmitteln, die Zeit, die an verschiedenen Zwischenstationen verbracht wurde, die Grade der Legalität, die Formen des Zusammenlebens und der Unterstützung sowie den Grad des Risikos, das man eingegangen war. Diese Informationen, die die gelebten Erfahrungen der Migrant_innen entlang ihrer Reisewege ins Zentrum stellt, erscheinen nicht auf der I-Map.
Es wurde dabei weder ein endgültiges Produkt erstellt, noch war das erwünscht. Das Kartierungsexperiment bot einen Raum außerhalb der Norm, eine intime gemeinsame Klammer, die es erlaubte, Geschichten auszutauschen, denen nur selten zugehört wird oder die häufig nur als »Dramen« oder Erzählungen der »Scham« ausgetauscht werden. Mit dem Fortschreiten der Workshops entwickelte sich das Mapping zu einem Prozess, in dessen Verlauf intensive persönliche Erzählungen Teil einer kollektiven Kritik der Grenze wurden. Es entwickelten sich nicht nur Unterhaltungen über die Institutionen, die die ursprüngliche Karte erstellt hatten, sondern auch über die impliziten Hierarchien der Mobilität innerhalb des Migrant_innennetzwerks und wie diese sich auf ihren kollektiven Kampf auswirken. Dabei ging es nicht nur um den Unterschied zwischen »regulär« und »irregulär«, sondern auch um unterschiedliche Formen der »Irregularität« und »Regularität« (z.B. wer hatte Zugang zu einem Visum oder konnte das Visum von jemandem anderen nutzen, die ehemals Legalen, die ihre Rechte in der jüngsten Wirtschaftskrise verloren, usw.). Implizite und undiskutierte Gefühle der »Schuld«, oder Annahmen über »heldenhafte Migrant_innen« kamen zu Tage, wurden ergründet und hinterfragt. Die internen Hierarchien wurden damit gewissermaßen als Resultat der Grenzziehung verstanden. Der Kartierungsprozess wurde so zu einer Untersuchung, durch die erfahrbar wurde, wie die Mechanismen der Grenzkontrolle und des Grenzmanagements in den realen Körpern wirken, eine Forschungsaufgabe über das innere Grenzsystem, in der ersten Person, die für die Teilnehmer_innen einen ermächtigenden Effekt der Re-Subjektivierung und eine Kritik der aktuellen Praktiken transnationaler Grenzziehungspraxen ermöglichte.
Das Beispiel verdeutlicht die Schlüsselrolle der Kartierung von Migrationsrouten in der Migrationspolitik. Migrant_innen zeichnen ihre Reisewege während ihrer Migration auf, um durch den Raum zu navigieren und der staatlichen Repression zu entkommen. Staaten und internationale Organisationen verzeichnen ihrerseits die turbulenten Bewegungen der Migration, um sie besser zu kontrollieren. Allein die Kartierung von Reisewegen durch einen offenen Raum, die von staatlichen Schranken zwar beeinflusst, aber nicht aufgehalten werden, ist nicht per se befreiend. Aber die Karten, die dabei produziert werden, können auch nicht auf ihren repressiven Nutzen reduziert werden. Als Gegenstand einer kritischen Überarbeitung der Migrant_innen, können sie einmal mehr zu einem Instrument werden, mit dessen Hilfe das Verweigern des Rechtes auf Mobilität und dessen mannigfaltigen Konsequenzen angegriffen werden. In allen drei Fällen geschieht dabei etwas Vergleichbares. Ein Kartierungsversuch deterritorialisiert die festen Begrenzungen der Staaten und trägt damit dazu bei, neue Subjektivitäten zu produzieren: Subjektivitäten von Migrant_innen in Bewegung und im Kampf; und Subjektivitäten von Grenzagenturen mit ihren neuen Visionen der »Politikimplementierung« in erweiterten Räume und Sphären. Doch trotz dieser Vergleichbarkeit sehen wir auch eine radikale Differenz. Einerseits handelt es sich bei der schwindelerregenden Kartografie der I-Map um einen Kartierungsprozess, der die Politiken der Mobilitätskontrolle und des Mobilitätsmanagements unterstützt. Die Kartierung dient letztlich dazu ein neues Set von Grenzziehungsprozessen zu verfestigen. Auf der anderen Seite haben wir es mit Kartierungsprozessen zu tun, die sowohl subjektiv als auch geografisch auf Bewegungsfreiheit und das Öffnen von Reisewegen und Migrationsrouten hin orientiert sind.
Wenn wir unsere Forschungsmethode reflektieren, war das Experiment kein traditionelles Szenario partizipativer Aktionsforschung, in dem Forscher_innen von außen ihre Forschung solidarisch in den Dienst einer Gruppe stellen. Ein auf Partizipation und Aktion hin orientierter Forschungsprozess ist meist relativ demokratisch und mit konkreten Zielen verbunden. Wissenschaftliche »Objektivität« wird genutzt, um die Anliegen der Gruppe zu unterstützen. In einem solchen Szenario ist die Trennung zwischen Objekt und Subjekt zwar reartikuliert, indem dem Objekt eine Stimme gegeben wird, dies aber letztlich unter der wissenschaftlichen Autorität der Forscher_innen erfolgt. Im Fall von La Red kam der Impuls zur Forschung aus der Gruppe selbst und entstand angesichts der frustrierenden Konfrontation mit der Fehlrepräsentation ihrer eigenen Migrationswege. Es gab dabei weder eine Gruppe externer Expert_innen, die eine Untersuchung vorschlugen, noch eine klare Forderung. Von Anfang an war die Grundmotivation, die Repräsentation von Migration herauszufordern, die diese als gefährliche und kriminelle Aktivität darstellt und die mit Hilfe einer solchen ›präzisen‹ Kartografie zu unterbinden versucht wird. Die Antwort des »Kartierens nach unseren eigenen Regeln« entstand beinahe wie ein Impuls von migrant pride, wie ein emanzipativer Akt, ein coming out als »Klandestine_r«. Diese Routen nachzuerzählen rückte für das Projekt das Prinzip feministischer Selbsterfahrungsgruppen in den Vordergrund, in der die eigene Erfahrung zur erkenntnistheoretischen Grundlage wird (Malo de Molina 2004). So basiert die Karte auf persönlichen Zugängen und Schilderungen der Reiseroute, die auf Erinnerungen der Einzelnen gründet. Dieses Sprechen in der ersten Person führte allerdings nicht zu einer geradlinigen Erzählung. Die Zusammensetzung von La Red war in Bezug auf das Herkunftsland divers, wobei viele Mitglieder aus dem Senegal stammten. Diversität existierte auch in Bezug auf den administrativen Status der Migrant_innen – mit oder ohne Papiere oder im Regularisierungsprozess. Diese Disparitäten spiegelten sich auch in den aufgezeichneten Routen. Vor allem aber eine Spaltungslinie wurde im Prozess des Mapping offensichtlich: Die vor Ort in Spanien Geborenen und Aufgewachsenen, wollten sich zunächst nicht am Prozess des Geschichten-Erzählens und Karten-Zeichnens beteiligen. Die feministische Epistemologie erlaubt es, die Perspektive der ersten Person, Diversität und Singularität als Teil eines gemeinsamen Kampfes anzuerkennen, doch die Spaltungslinie positionierte einige als Nicht-Migrant_innen, die noch keinen Reiseweg gegangen waren, was ja der Gegenstand der Untersuchung selbst darstellte. Diese sonderbare Situation brachte eine Spannung zu Tage, die zuvor schon in der These der ›Migrant_innen/Prekären‹ zur Sprache gebracht worden war. Europäische soziale Bewegungen, die zum Thema Prekarität arbeiten, entwickelten um das Jahr 2000 diese These im Versuch einer Artikulation der Gemeinsamkeiten zwischen zunehmend prekären Arbeitsbedingungen vieler Jugendlicher und dem Mangel an sozialen Rechten und Schutz für Migrant_innen. Doch trotz des Versuches diese These in La Red zu praktizieren, war es schwierig, dies wirklich zu ›fühlen‹; nach wie vor dominierte das Gefühl, zwei Teams zu sein: Eines, das gewöhnlich als Opfer verstanden wird, und das andere, der revolutionären Insider. In diesem Sinne war bei einigen Treffen eine implizite Hierarchie spürbar. Der Prozess der Kartierung hätte vielleicht dieses Gefühl aufweichen können, vor allem da er möglicherweise überraschende Übereinstimmungen zu Tage befördert hätte, insbesondere jetzt, da viele Spanier_innen zur Auswanderung gezwungen sind.
Wie jede andere Binarität ist die Objekt / Subjekt-Spaltung – hier verkörpert als »Migrant_innen vs. Einheimische« – eine Vereinfachung einer komplexen Realität. Im Fall von Our Map bestand die Herausforderung darin, die chaotische Fülle des Phänomens Migration anzuerkennen und wertzuschätzen, dass sich die Bewegung von Süd nach Nord, aber auch in viele andere – unerwartete
– Richtungen bewegt. Der Mapping-Workshop lud jede_n ein seine_ihre Migrationsgeschichte zu erzählen, ganz gleich ob es sich dabei um eine internationale oder aber auch inter-regionale Ortsverlagerung handelte. In diesem Sinne geht es darum zu realisieren, dass die Migration uns alle berührt; und, dass Bewegungen nicht in der Binarität irregulär/regulär erstarren, sondern sich ständig von regulär zu irregulär und wieder zu regulär wandeln. Diese Objekt/ Subjekt-Spaltung zu hinterfragen und die Allgegenwärtigkeit von Migration zu begrüßen, könnte ein Ausgangspunkt eines gemeinsamen Kampfes für Bewegungsfreiheit sein, in dem die daran Beteiligten sich horizontaler aufeinander beziehen und die kolonialen Hierarchien hinter sich lassen, von denen die Kämpfe der Migration auf die ein oder andere Weise durchzogen sind.

Vom Versprechen der totalen Sichtbarkeit bis zum ungehorsamen Blick

Das Überwachen des Grenzvorbereichs: Eurosurs-Lagebild
Das militarisierte Grenzregime im Mittelmeer bildet sich als neues Beispiel eines hochkartografierten, überwachten Raums heraus. Die illegalisierte Einwanderung zu beobachten, zu quantifizieren und zu kartografieren ist eine zentrale Praxis der Grenzkontrolle. Während ein Teil dieser Arbeit ex post erfolgt, so wie die Karten von Frontex als »Risikoanalyse« vergangene Überfahrten visualisieren, existiert zur Überwachung eine hochtechnologisierte Praxis der Echtzeitkartierung der Grenze. Optische und thermische Kameras, auf See, an Land und in der Luft stationierte Radarstationen, Technologien, die Bewegungen von Schiffen aufzeichnen, und Satelliten bilden einen umfangreichen und komplexen Überwachungsapparat aus der Distanz, der beim Versuch, Schifffahrtswege zu überwachen unaufhörlich elektromagnetische Wellen aussendet, um den »schlechten« Verkehr innerhalb der »guten« Mobilität herauszufiltern. So wird das »flüssige Mittelmeer« durch das immaterielle Meer der verschiedenen elektromagnetischen Emissionen geradezu verdoppelt (Heller, Pezzani 2014, i.E.).
Das aktuelle Ziel verschiedener Agenturen, die den Seeraum kontrollieren, ist es, diese unterschiedlichen Technologien so zusammenzuführen, dass ein möglichst vollständig »integriertes maritimes Lagebild« entsteht. Dies ist sowohl eine technologische, wie auch eine institutionelle Herausforderung, die die Kooperationsfähigkeit der Agenturen verschiedener Länder (innerhalb und außerhalb der EU) erfordert und sich über unterschiedliche Felder von Aktivitäten erstreckt. Im Feld der Migration nimmt dieser bereits seit mehr als zehn Jahre dauernde Prozesse aktuell durch das gemeinsame Europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR an Fahrt auf und verfestigt sich.
Eurosur ist ein Informationssammlungs- und Austauschsystem, mit dessen Hilfe Grenzschützer_innen irreguläre Migrant_innen »aufspüren, identifizieren, verfolgen und aufgreifen« können. Ziel des Systems ist es, die unbemerkte Einreise irregulärer Migrant_innen zu verhindern sowie theoretisch durch die komplette Überwachung Migrant_innen in Seenot retten zu können. Während Eurosur im Februar 2008 öffentlich von der EU-Kommission ins Leben gerufen wurde, geht der Initiative eine komplexe Entwicklungsgeschichte voraus. Einer der möglichen Ursprünge von Eurosur ist die berüchtigte Machbarkeitsstudie zur Kontrolle der Seegrenzen der Europäischen Union, die der EU-Kommission 2003 von CIVIPOL, einer halb-öffentlichen Beratungsfirma des französischen Innenministeriums, vorgelegt wurde. Dieser Bericht argumentierte: »Es gibt einen wachsenden Bedarf der Überwachung aller Arten von Booten in den europäischen Küstengewässern […] Es wäre heute technisch machbar, alle zugänglichen Daten zu in einem bestimmten Gebiet zu kombinieren (alle Arten von Daten, die von jeder Sorte mobiler und fester Sensoren erfasst werden), um ein zentralisiertes Lagebild der Region zu erstellen.« (Coucil of the European Union, CIVIPOL 2003, eigene Übersetzung). Vorgeschlagen wurde, dass unterschiedliche, von nationalen Zentren bereitgestellte Überwachungsdaten in einem »European Intelligence Center« zusammengeführt werden. Das sich daraus ergebende maritime Bild würde es dann ermöglichen, »klassische Verfolgungs- und Abfangoperationen« durchzuführen (ibid.). Die ursprüngliche Idee, Sensoren und nationale Zentren zu vernetzen, um ein umfassendes maritimes Lagebild zu erstellen, entwickelte sich nach der Einrichtung von Frontex 2005 weiter und konsolidierte sich. Im Jahr 2006 führte die Agentur die (unveröffentlichte) Machbarkeitsstudie BORTEC durch, um ein die gesamte südliche Meeresgrenze der EU abdeckendes Überwachungssystem einzurichten. So nahm die Initiative Eurosur vom Bericht zur Machbarkeitsstudie, vom Vorschlag zur Regulierung, zunehmend Gestalt an. Am 22. Oktober 2013 wurde die Eurosur-Verordnung verabschiedet (Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union 2013), die Operation begann offiziell am 2. Dezember 2013. Eurosur, vernetzt die nationalen Überwachungssysteme der EU-Mitgliedsstaaten sowie der angrenzender Länder und stellt zusätzlich hochtechnologische Sensoren bereit, um die »situational awareness and […] the reaction capability of national authorities controlling the external borders of the EU Member States« zu verbessern (Frontex 2012: 20). Das verlautbarte Ziel ist es, grenzüberschreitende Kriminalität zu verhindern und die Zahl der unerfasst irregulär in den Schengen-Raum einreisenden Migrant_innen sowie die Zahl der auf See verunglückten Migrant_innen zu senken (ibid.). Dafür werden die Mitgliedsstaaten verpflichtet, ein nationales Koordinationszentrum einzurichten (insgesamt werden es 24 sein), die Informationen über ihre Außengrenzen sammeln und in regelmäßigen Situationsberichten, den sogenannten »nationalen Lagebildern«, an andere Mitgliedsstaaten und Frontex zu übermitteln. Frontex wird diese Informationen zur Erstellung eines »europäischen Lagebildes« und eines »Gemeinsamen Überwachungsbild des Grenzvorbereiches« verwenden – als »Grenzvorbereich« wird dabei ein ausgedehntes Gebiet bezeichnet, dass an den Außengrenzen der EU beginnt und dessen Endpunkte nicht definiert sind (weitere Bilder).
Zentral für Eurosur ist die Echtzeitkarte, »Lagebild« genannt, d.h. eine »Schnittstelle zur grafischen Darstellung echt zeitnaher Daten und Informationen, die von verschiedenen Behörden, Sensoren, Plattformen und anderen Quellen erhalten wurden und mit anderen Behörden über Kommunikations- und Informationskanäle ausgetauscht werden, um ein Lagebewusstsein zu erlangen und die Reaktionsfähigkeit entlang der Außengrenzen und im Grenzvorbereich zu unterstützen« (Europäisches Parlament, Rat der Europäischen Union 2013: 14).
Diese Echtzeitkarte könnte man mit Karin Knorr Cetina als »scopic system« bezeichnen: »When combined with a prefix, a scope (derived from the Greek scopein, »to see«) is an instrument for seeing or observing, as in periscope. […] A scopic system is an arrangement of hardware, software, and human feeds that together function like a scope: like a mechanism of observation and projection« (Knorr Cetina 2009: 64).
Das maritime »scopic system« wird zunehmend durch verräumlichte, auf Karten und Monitoren dargestellte Daten vermittelt, auf deren Grundlage Grenzschutzbehörden auf erkannte »Gefahren« reagieren, indem sie ihre Instrumentarien einsetzen oder, wie wir sehen werden, eben auch nicht. Dieser Aufspürapparat ebenso wie die Schnittstellen der Kartierung stellen jedoch weniger eine Repräsentation der illegalisierten Migration dar, als dass sie wesensgleich mit der Grenze sind. Denn wenn die Grenze erst durch ihr Überschreiten existiert, muss letzteres durch die menschliche Wahrnehmung und ihre zahlreichen technologischen Erweiterungen erst aufgespürt werden.
Diese vernetzte Wissens- und Kartierungspraxis hat eine stark ästhetische Dimension, denn seine Politiken hängen eng mit den Bedingungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zusammen. Durch dieses Dispositiv versuchen Grenzkontrollagenturen, Licht auf die Praktiken der illegalisierten Grenzübertritte zu werfen, während Migrant_innen, wie wir oben argumentiert haben, alles dafür tun, ›unter dem Radar‹ zu bleiben. Diese Binarität stellt jedoch die komplexe und ambivalente Natur des Feldes der (Un)sichtbarkeit nicht angemessen dar. Erstens, ist das maritime Lagebild, das durch die oben beschriebenen Überwachungsdispositive erzeugt wird, angesichts der Weite der See und den kleinen Booten, die von den Migrant_innen meist verwendet werden, weit davon entfernt ein Gesamtbild zu zeigen. Die Überwachung erfolgt eher als Flickwerk, und konzentriert sich immer nur auf bestimmte Routen und Abschnitte, während weite Teile des Seeverkehrs unbeobachtet bleiben. Durch diese zahlreichen Sichtbarkeitslücken können Migrant_innen sich dann bewegen. Jedoch sind die Migrant_innen in ihrem Versuch, die Grenzkontrolle zu umgehen, einem Dilemma ausgeliefert: denn nicht aufgespürt zu werden, bedeutet auch womöglich unbemerkt auf hoher See zu sterben. In Notsituationen versuchen sie deshalb alles Menschenmögliche, um gesehen zu werden, während Staaten und andere Akteure auf See angesichts eines Notfalls selektiv die Augen schließen – zum Beispiel, wenn Migrant_innen sich in einer anderen Rettungszone (Search and Rescue Zone – SAR) befinden.13 Schließlich konzentriert sich die Aufklärung des Grenzüberwachungssystem auf Gesetzesverletzungen, die durch die unautorisierte Bewegung migrantischer Körper über Grenzen erfolgt, während die politische Gewalt, die Grundlage des Grenzregimes ist, ebenso wie die rechtlichen Verletzungen, die es strukturell hervorbringt, im Dunkeln bleiben.
Es ist genau diese »Aufteilung des Sinnlichen« – um Jacques Rancières Terminologie zu verwenden (Rancière, 2006) – die in jüngster Zeit von kritischen Menschen-rechtsaktivist_innen versucht wurde, zu unterwandern, indem sie zum Teil dieselben Aufspür- und Überwachungsinstrumente verwenden, wie sie auch von den Grenz-kontrolleur_innen genutzt werden.

WatchTheMed: Die Überwacher_innen überwachen
Die Verwendung von Fernsensortechnologien für die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen an der Grenze kam in jüngster Zeit auch in ver-schiedenen aktivistischen Praktiken auf, insbesondere im Rahmen von Forderungen der Verantwortungsübernahme angesichts unterlassener Hilfeleistung gegenüber Migrant_innen in Seenot. Im Fall des sogenannten »left to die boat«-
Falles starben 63 Migrant_innen während sie 14 Tage lang in Gewässern trieben, die im NATO-Überwachungsgebiet vor Libyen lagen. Unter Verwendung von Überwachungsdaten entgegen deren ursprünglicher Intention konnten die Ereignisse und der wiederholte Kontakt mit unterschiedlichen Akteur_innen präzise nachvollzogen werden. Diese Rekonstruktion diente dann als Grundlage einer Reihe von noch anhängigen gerichtlichen Klagen gegen Staaten, denen vorgeworfen wird, den Menschen in Seenot nicht zu Hilfe gekommen zu sein (Heller, Pezzani, i.E.). In einem Versuch an den EU- Seegrenzen das »Recht zu Sehen« einzufordern, verweigert sich das Projekt der Aufdeckung klandestiner Grenzübertritte. Vielmehr zielt es darauf ab, die Überwachungstechnologien ihrerseits zu nutzen, um durch das Migrationsregime induzierte Rechtsverstöße aufzudecken. In diesem Sinne werfen wir ein ›ungehorsamen Blick‹, der die »Aufteilung des Sinnlichen« (Rancière 2006) umkehrt, die durch das Grenzregime der maritimen Umgebung auferlegt wurde und zeichnen eine Karte der Gewalt, die die Gouvernementalität der Migration zu verdecken versucht.
Im Jahr 2012 wurde ein weitergehendes Kartierungsprojekt initiiert, an dem einige von uns beteiligt sind, und das auf den Methodologien, die wir in der Erstellung des Berichts über den »left to die boat«-Fall entwickelten, basiert, aber eine breitere Zusammenarbeit zwischen Aktivist_innengruppen, NGOs und Forscher_innen beinhaltet. Watch the Med
(WTM), wie diese Initiative sich nennt, ist eine Online-Mapping-Plattform des Mittelmeers, die entworfen wurde, um die Aktivitäten der Grenzkontrolleur_innen in dieser Region zu überwachen und die Rechtsverstöße gegen Migrant_innen auf See präzise zu verzeichnen, um festzustellen, welche Behörden und Akteur_innen für diese verantwortlich sind. Dabei kehrt WTM die ursprüngliche Intention einer Vielzahl von Überwachungstechnologien um.
Erstens, stützt sich WTM auf Fernerfassungstechnologien wie Satellitenbilder, Schiffstrackingdaten und geolokalisierende Daten aus Satellitentelefonen. Diese Technologien werden jedoch nicht genutzt, um Gefahren aufzuspüren, wie dies in den Erfassungs- und Überwachungsdispositiven, die wir oben erwähnt haben, gewöhnlich der Fall ist, sondern aufgespürt werden die Verletzungen, die durch die Praktiken verursacht werden, mit denen die Mobilität auf See kontrolliert werden soll. Denn die umfassenden Prozesse der Verbildlichung und Datenerfassung des maritimen Raumes zum Zweck der Überwachung konstituieren auch eine Art digitales Archiv, das teilweise öffentlich zugänglich ist, befragt und als Zeugnis neu untersucht werden kann. Indem sowohl Überlebende als auch diese »technischen Zeug_innen« befragt werden und die Daten, die aus diesen Quellen gewonnen werden, räumlich zugeordnet werden, ist WTM in der Lage, die Situation auf See zu beobachten. Dabei werden Fragen gestellt wie: In welcher SAR-Zone war ein Boot in Seenot und welcher Staat war für seine Rettung verantwortlich? Welche Boote waren in der Nähe? Im Fall einer Rettungsaktion, wurden die Passagier_innen in ein Territorium gebracht, in dem sie internationalen Schutz beantragen konnten oder wurden sie abgeschoben? So operiert WTM als internetbasierter, partizipativer maritimer Kontrollraum, wenn auch mit dem gegenteiligen Ziel der Grenzkontrolleur_innen. Zusätzlich zur Umwidmung von Technologien, die eigentlich zur Überwachung eingesetzt werden, stützt sich WTM auf eine engmaschige »menschliche Infrastruktur«, die Vorfälle meldet, bestehend aus Aktivist_innen, Forscher_innen, Migrant_innen und deren Familien (Überwachungstechniken am Beispiel der italienischen Küste).
Zweitens, verwandelt WTM das Wissen, das durch Mittel der Überwachung produziert wird, in Verantwortungsbeweise. Denn mit dem Maß an Wissen über die Ereignisse im Mittelmeer, das die Grenzagenturen für sich reklamieren, wächst auch das Maß der Verantwortung für die Toten auf See. Indem die Gebiete, die durch verschiedene Technologien beobachtet werden, angezeigt werden, verweist WTM auf mögliche Vergehen im Fall eines Zwischenfalls innerhalb dieses Abschnitts – wie im Fall des verunglückten Bootes vom 3. Oktober 2013, auf dem 360 Menschen ums Leben kamen und das weniger als 1 km vor der Küste von Lampedusa sank, an einem der am dichtest überwachten Orte des Mittelmeeres. Um das Ausmaß der Überwachung in einem bestimmten Gebiet zu bestimmen, stützt sich WTM unter anderem auf bestehende veröffentlichte Karten der Überwachungsindustrie, die immer gerne mit ihren technologischen Fähigkeiten prahlt. Die Karte der Radarüberwachung der italienischen Küste wurde so zum Beispiel als Basis für die Radarüberwachungsebene von WTM genutzt.
Drittens warnt WTM vor den totalisierenden Ansprüchen der Überwachung und Gegenüberwachung. Die Ereignisse von Lampedusa bieten dafür ein Musterbeispiel: während es keinerlei Anzeichen dafür gab, dass das Boot durch die diversen Schichten der Überwachung aufgespürt worden war, verweist dieses Versagen auch auf die Unhaltbarkeit des Arguments, dass ein Mehr an Überwachung im Rahmen von Eurosur zukünftig Leben retten kann.
Ebenso wie in unserer ersten »Geschichte« zirkulieren auch hier wieder Instrumente, Epistemologien und Karten. Praktiken des Mappings zirkulieren und werden für ganz andere Dinge, als ursprünglich von ihren Autor_innen intendiert, zweckentfremdet. Gegenüber WTM und den maritimen Kontrollräumen der Küstenwache könnte man fragen, wer denn die »royale« und wer die »nomadische« Wissenschaft betreibt?
Grenzoperationen konstituieren einen zunehmend elastischen Raum der Souveränität, indem Staaten ihre Ansprüche auf Souveränität ausdehnen, da sie polizeiliche Operationen jenseits ihres Territoriums ausüben; gleichzeitig entziehen sie sich ihrer Verpflichtung zu Rettung und Bergung Schiffbrüchiger.
Wenn WTM die Rechtsverletzungen im Versuch das Territorium der EU vor illegalisierten Migrant_innen abzuschotten angreifen möchte, dann geschieht das, indem sie mit den juristischen Grenzmarkierungen auf See (wie etwa den SAR-Zonen) arbeiten, die von den Staaten selektiv missachtet werden. Während sie also in diesem Sinn die objektive Bewegungsfreiheit als einzige Alternative zu Tod und Rechtsverletzungen auf See verteidigen, führen sie den Aspekt der Verantwortung wieder in die transnationalen Begrenzungen ein, die in den Politiken als elastische Filter dienen. Auf diese Art und Weise vollziehen sie einen »strategischen Territorialismus« – um Gayatri Spivak’s »strategischen Essentialismus« zu paraphrasieren (Spivak 1996 [1985]).

Anstelle von Schlussfolgerungen: Militante Kartierungsforschung und aktivistisches Mapping

Dieser Text begann mit einer Rekapitulation der aktuellen Verschiebungen im Migrationsmanagement, angesichts derer wir argumentierten, dass die Praktiken des Kartierens, des Mapping, Migration und Kontrolle nicht nur repräsentieren, sondern auch eine Schlüsselrolle, sowohl in der Verteidigung und Durchsetzung von Bewegungsfreiheit als auch seiner Verweigerung durch Kontrollpraktiken, spielen.
Mit Hilfe der zwei Geschichten kollidierender/migrierender Karten, die wir beschrieben haben, zeigten wir, wie Karten und Kartierungspraxen zwischen beiden Seiten des Spektrums zirkulieren. Kartografie wird genutzt, wiederverwendet, an ihr wird herumgebastelt, sie wird angeeignet und wieder und wieder zurückerobert, um den verschiedenen ›Seiten‹ eines offenen Kampfes zu dienen.
Ein »Gefecht der Kartografien« könnte man diese Auseinandersetzung um Kartierungen nennen; eine Auseinandersetzung um die Konstruktion unterschiedlicher verräumlichter Wissensbestände von und über die multiplen Realitäten der Migration. Während das territoriale Weltbild lange mit staatlicher Kontrolle in Verbindung gebracht wurde und der offene, von Wegen durchkreuzte Raum Emanzipation, zeigten wir, dass sich diejenigen, die Migrationskontrolle praktizieren, zunehmend deterritorialisierte und mobile Raumvorstellungen zu Nutze machen und die Praktiken deshalb keineswegs weniger repressiv sind. In Zeiten, in denen die Praktiken der Grenzziehung zunehmend mobil und verstreut sind, bestimmten Interessen folgen und sich situationsbezogen ausdehnen oder zurückziehen, um strukturell keine Verantwortung für durch die Mobilitätskontrollpolitik verursachten Menschenrechtsverletzungen zu übernehmen, könnte es eine produktive Strategie sein, die Praktiken der Kontrolle zu re-territorialisieren, um dadurch verantwortliche Akteur_innen in bestimmten Räumen und Zeiten festnageln zu können (Tazzioli 2014).
Indem wir beide Geschichten erzählten, betrachteten wir weder die Migration noch ihre Kartierungen aus der Vogelperspektive oder durch die Linse eines weit entfernten Teleskops, das eine einwandfreie Präzision bietet. Wir erzählten diese Geschichte aus der Perspektive unseres Involviertseins. Militante Untersuchung ist dieser Blick von Innen und gegen etwas, wodurch ein situierter und antagonistischer Untersuchungsmodus entsteht. Während wir Partei ergreifen, versuchen wir unsere Kritikfähigkeit auch gegenüber den Prak-
tiken, an denen wir beteiligt sind, nicht zu verlieren. In diesem Sinne haben wir den Versuch einer »kritischen Nähe« unternommen, die sich dem wissenschaftlichen Imperativ verweigert, der das Unbeteiligtsein fordert, um eine »kritische Distanz« des Denkens zu ermöglichen. Unsere Forschung ist verankert in Arndts Versuch« to think what we are doing« (Arendt 1958), aber möchte das Denken auch in eine Form des Handelns verwandeln und damit die Unterscheidung zwischen Forschung und Praxis weiter verwischen.

Übersetzung: Martina Benz

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