Umkämpfte Wissensproduktion, (kritische) Migrationsforschung und das Recht auf Mobilität im Bologna-Prozess.
Die im Rahmen des Bologna Prozesses angestrebte Vereinheitlichung des europäischen Hochschulwesens verspricht Mobilität, Flexibilität und Internationalität. Sie verspricht bessere Anerkennung von Studienabschlüssen durch die Vereinheitlichung von Lehre und Forschung, sowie bessere Studienbedingungen. Tatsächlich treibt die Umsetzung des Bologna Prozesses mit seinem Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit jedoch Elitenbildung sowie die Hierarchisierung und Ökonomisierung von Wissen voran: Das bedeutet eine Internationalisierung für Einige unter europäisch-selektiven Vorzeichen bei gleichzeitiger Prekarisierung und Ausschluss von Vielen.
Selektiver Mobilitätsimperativ
Mobilität wird als zentraler Wert propagiert, gleichzeitig wird die zunehmende Abschottung der Grenzen Europas verteidigt. Dabei bildet das Klassifizieren von Migrant_innen auf Basis „fremdenrechtlicher“ Bestimmungen eine zentrale Grundlage, auf der das Aussieben der „besten Köpfe“ zur Schaffung eines europäischen Elitehochschulraumes vorangetrieben wird. Neben den administrativen Zugangsbeschränkungen, der Einführung des dreistufigen Bachelor-Master-PhD-Systems und Knock-Out-Prüfungen, sind es vor allem aufenthalts- und arbeitsrechtliche Bestimmungen der 2009 neuerlich novellierten gesetzlichen Regelungen, die s.g. Drittstaatsangehörige in prekäre Lebensverhältnisse drängen. Einmal erlangte Zugangsberechtigungen oder ein österreichischer Universitätsabschluss sind kein Garant für einen gesicherten Aufenthalt in Österreich. Studierende aus Drittstaaten, die über ein Student_innen-Visum verfügen, werden nach dem erfolgreichen Studienabschluss ausgewiesen, wenn sie das erforderliche Einkommen von monatlich etwa 2400 Euro als „Schlüsselkraft“ nicht vorweisen können. Die rassistische und soziale Selektion vor und während des Studiums findet so auch danach ihre Fortsetzung. Der geforderte Gewinn weist auf eine fatale Verknüpfung der ökonomischen Verwertungslogik mit eurozentrischen Strukturen hin.
Der Prozess der selektiven „Internationalisierung“ ist durch das Spannungsfeld konkurrierender nationalstaatlicher und europäischer Interessen bestimmt, wie beispielsweise die Auseinandersetzungen um die Abschaffung der Studiengebühren für Unionsbürger_innen in Österreich zeigen. Während diese für die Mindeststudiendauer aufgehoben wurden, bleibt die Belastung der Studiengebühren für den Großteil der Drittstaatenangehörigen so- wie der zu erbringende Ersparnisnachweis über mind. 8.000 Euro pro Jahr weiterhin bestehen. Asylwerber_innen und Illegalisierten bleibt der Zugang zu österreichischen Universitäten verwehrt, weil sie die (formalen) „Qualifikationskriterien“ angeblich nicht erfüllen. Für Personen ohne bzw. mit „falschem“ Pass gibt es in Österreich kaum Möglichkeiten, Förder- und Sozialstipendien zu erhalten. So entwickelt sich ein Mobilitätsregime mit einem Anreizsystem für hochwertige außereuropäische Wissenschafter_innen, ein Mobilitätszwang für Prekarisierte und eine komplexe Mobilitätskontrolle.
Lehre und Forschung im Migrationsregime…
Die Widersprüche dieser Selektion stehen in Wechselwirkung mit Formen und Inhalten des Wissens, welche an den Universitäten produziert und gelehrt werden. Während eine Auseinandersetzung mit der eigenen Verwobenheit in die europäische Geschichte des Kolonialismus, des Antisemitismus oder der Rassifizierung in den Wissenschaften weitgehend ausbleibt, zeigen sich die Effekte von Differenzlinien und exkludierender Rationalitäten auch in der hegemonialen Migrations- und Integrationsforschung. Universitäre Migrationsforschung übernimmt vermehrt (über-) staatlich-regulative Rationalitäten und Funktionen und gehorcht damit dem Druck, „verwertbares Wissen“ zu produzieren und drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte an den derzeit geltenden Problemdefinitionen auszurichten.
Dabei klingen Forschungsfragen mitunter recht dynamisch, denn die Forschung zielt nicht mehr nur auf die Erstellung statistischer Datengrundlagen, sondern erfasst auch Erfahrungen und Strategien der Migrant_innen – wobei schon die Bezeichnung „Migrant_in“ auf die Definitionsmacht der Forschung verweist, Menschen in Gruppenkategorien festzuschreiben und als solche zu untersuchen. Aktuelle Migrationsforschung soll so dynamisch sein wie Migrationsbewegungen selbst und dabei Wissen für deren Management bereitstellen. Während in diesen Entwicklungen das Interesse an der Zusammenarbeit mit „kritischen Wissenschaftler_innen“ steigt, werden Migrationsbewegungen bei dieser Art der Wissensproduktion in erster Linie als Kontroll-, Sicherheits- oder Integrationsproblem, bzw. als Wirtschaftsfaktor betrachtet. Migrationswissen verwertbar zu machen ist die Zielsetzung von nationalstaatlichen, zwischenstaatlichen, europäischen und privaten Stiftungstöpfen und Gatherings, über die sich Wirtschaft, Politik und Wissenschaft heute verknüpfen. Diese Formen der Wissensproduktion waren die entscheidenden Grundlagen für die Entstehung von Grenz- und Migrationsregimen, wie wir sie heute kennen.
Durch dieses facettenreiche Wissen sollen Selektionsprozesse legitimierbar, Gründe für Integrationsprobleme sichtbar, Risikopotenziale identifizierbar und geeignete präventive Maßnahmen abgestufter Intervention letztlich durchführbar werden: Das Migrations- und Grenzregime erneuert sich.
Durch die Aneignung ehemals kritischen Wissens durch Politik und staatliche Institutionen stellt sich die Frage nach dem ‚wie‘ der Kritik neu. Die politischen Prämissen und normativen Setzungen, die den Ausgangspunkt – und damit die Rahmung von Migration und Kontrolle – heutiger angewandter Migrationspolitik und -forschung ausmachen, grundlegend zu hinterfragen, könnte dabei als gegen- hegemoniale Praxis verstanden werden. Der vorherrschende Konsens in der Migrationsforschung, den Nationalstaat bzw. die Europäische Union als Container zu denken, in den migriert würde, kann als methodologischer Nationalismus bzw. Eurozentrismus kritisiert werden. Von dieser Kritik ausgehend ist es wichtig, in Frage zu stellen, wie Staatsangehörigkeit, illegale Migration und Grenzen zu gesellschaftlichen Problemen werden und Begriffe wie Integration und Leitkultur hervorbringen und dabei Rassismus kaum zum Thema wird. Es macht nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch einen politischen Unterschied, ob man sich entscheidet, die Mobilität von Menschen als Zuwanderung von „Fremden“, als humanitäre Migration, Arbeitsmigration oder Fluchtmigration zu bezeichnen. Ein Aspekt kritischer Migrationsforschung ist deshalb die Kritik und Dekonstruktion der Produktion von scheinbar objektivem, universitär abgesichertem „Wissen“ über Migration.
…und umkämpfte Wissensproduktion
Es waren unter anderem die Kämpfe der Migration, wie etwa die Sans Papier Bewegung, oder postkoloniale Theoretiker_innen aus dem globalen Süden, wie der Subaltern Studies Group, die auf die Verzahnung von kapitalistischen, rassistischen und sexistischen Herrschaftsverhältnissen aufmerksam gemacht haben. Diese haben es vereinzelt geschafft, Formen der antirassistischen Wissensproduktion an den Universitäten zu etablieren.
Sie zeigen damit, dass die Universitäten nicht nur Räume der Produktion und Etablierung von Herrschaftswissen sind, sondern dass dieses Wissen von Lehrenden und Studierenden herausgefordert, kritisiert und verändert werden kann. Auf dem Weg zu einer anderen Universität benötigt es eine Perspektive, die es schafft, die Verzahnung kolonialer und rassistischer Denkmuster und Praktiken mit anderen Herrschaftsverhältnissen wahrzunehmen, und deren Artikulationen und Konjunkturen zu benennen und zu bekämpfen.
Notwendig sind dafür andere Zusammenhänge der Wissensproduktion. Derzeit werden diese Zusammenhänge in den Unistreiks sichtbar. Die Produktion kritischen Wissens nimmt ihren Ausgangspunkt an jenen Orten, wo gesellschaftliche Konfliktlinien bestehen. An den Unis entsteht und zirkuliert Wissen um Widerstandsstrategien gegen die Zugangsbeschränkungen für Migrant_innen. Kritisches Wissen erweitert und transformiert sich dort, wo Studierende in individuellen und kollektiven Kämpfen die Studiengebühren für Migrant_innen aus Drittländern ablehnen. Oder dort, wo kritisches Wissen über Migration thematisiert wird und wo sich strategische Bündnisse zusammenschließen. Kritisches Wissen entsteht in der Bildungsprotestbewegung, wo mitunter nicht akzeptiert wird, dass die postulierte Offenheit des Bologna-Prozesses unter dem Label von Mobilität und Internationalität wieder nur für bestimmte Personengruppen gilt. Wissen macht Unistreik.
Petja Dimitrova, Eva Egermann, Andrea Kretschmann, Christina Linortner, Irene Messinger, Petra Neuhold, Paul Scheibelhofer, Marion von Osten (Mitglieder im Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung)
Erschienen in MALMOE Nr. 48