November 10, 2016

Appell für ein Verfahren gegen Lothar Lingen

Statement zur dringenden Einleitung eines Verfahrens gegen Lothar Lingen

Am 04.11.2016 jährte sich die Entdeckung der NSU-Mitglieder Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zum fünften Mal. Während dies bundesweit Anlass war, ein ernüchterndes Resümee aus der bisherigen Aufklärungsarbeit zu ziehen, laufen nun auch die Verjährungsfristen der Aktenvernichtungen rund um das NSU-Netzwerk ab. Es ist ein Skandal, dass die fünf Jahre seit Bekanntwerden des NSU-Komplexes kaum für eine Ermittlung des der Mittäter*innenumfelds genutzt wurden. Nun treibt der Staat diese Situation noch weiter auf die Spitze.

Wir verurteilen die Ablehnung der Kölner Staatsanwaltschaft, ein Strafverfahren gegen den ehemaligen Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Lothar Lingen zu eröffnen, aufs Schärfste. Er und die bis heute unbekannten Personen, die ihn bei der Vernichtung von Akten über die V-Personen der Operation Rennsteig unterstützten, wurden am 05.10.2016 durch die Familie des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik bereits zum zweiten Mal angezeigt. Die erneute Ablehnung eines Verfahrens gegen Lingen untergräbt alle Versprechen einer „lückenlosen Aufklärung“, welche von Seiten der Bundesregierung nach Bekanntwerden des NSU im Jahr 2011 getätigt wurden.

Bis zum September diesen Jahres kursierte die zweifelhafte Verlautbarung des BfV, die Akten seien, durch unglückliche Zufälle, eine Woche nach der Feststellung der drei NSU-Mitglieder Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, unter die betrieblich festgesetzten Löschfristen gefallen. Vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss verwies Lingen kürzlich jedoch auf eine bereits 2014 vor der Bundesanwaltschaft getätigte Aussage: Er habe die Unterlagen explizit löschen lassen, um kritische Nachfragen beim BfV zu verhindern. Dass trotz dieser vorsätzlichen Aktenvernichtung keine Anklage durch die Bundesanwaltschaft erhoben wurde, ist ein Skandal für sich. Dass die Bundesanwaltschaft die Zeugenvorladung Lingens in den NSU-Prozess mit Verweis auf die Zufallsthese ablehnte, brachte ihr bereits eine Anzeige ein.

Die von der Bundesregierung versprochene Aufklärung bleibt ein Lippenbekenntnis. Insbesondere für die Hinterbliebenen ist dies eine schmerzvolle und skandalöse Missachtung. Über 11 Jahre wurden die Familien der NSU-Opfer von den Ermittlungsbehörden als Täterinnen und Täter verdächtigt. Für Polizei und Staatsanwaltschaft war bundesweit jedes Mittel recht, um jeglichem Ermittlungsphantasma nachzugehen. Die Angehörigen wurden durch den deutschen Staat mit erfundenen Geschichten über Affären, kriminelle Machenschaften und die Verfehlungen ihrer Angehörigen terrorisiert. Telefonüberwachungen, Ausspähungen und vorschnelle Verdächtigungen waren an der Tagesordnung. Doch für die türkischen, kurdischen und griechischen Opfer scheinen andere Regeln zu gelten als für deutsche Beamtinnen und Beamte. Trotz eindeutiger Verdachtsmomente für die Vertuschung von Beweismaterialien, die das Wissen und Nicht-Handeln des Verfasssungsschutzes offenlegen, wird nicht einmal ein erster Schritt unternommen, um die Verantwortung staatlicher Institutionen aufzuklären. Mit der Ablehnung des Verfahrens gegen Lothar Lingen wird die Aktenvernichtung am Freitag, den 11.11.2016, verjähren. Die Verantworlichen bleiben straffrei, während die Opfer ihren Kampf um Gerechtigkeit alleine weiterführen. Die Angehörigen der NSU-Opfer mussten über ein Jahrzehnt erleben, wie sie zu Ausländer*innen gemacht wurden, welche keinerlei Schutz vom deutschen Staat erwarten dürfen. Nun erleben sie dies ein weiteres Mal, wenn die Morde an ihren Familienmitgliedern keinen Anlass für Aufklärung und Konsequenzen bieten.

Wir wollen dies nicht länger hinnehmen! Wir lassen den NSU-Komplex nicht verjähren! Wir fordern konkrete Konsequenzen für die Vielzahl an Verantwortlichen der größten rechtsterroristischen Mordserie der BRD und deren institutionelle Einbettung. Wir fordern eine Auseinandersetzung mit den Akteur*innen und ihren Wissenszuständen, welche das jahrelange Morden erst ermöglichten.
Wir rufen hiermit explizit die Staatsanwaltschaft Köln, die Bundesanwaltschaft, NRW-Justizminister Thomas Kutschaty sowie den Bundesjustizminister Heiko Maas auf, tätig zu werden und ein Verfahren gegen Lothar Lingen einzuleiten.

Das Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung ist ein internationales Netzwerk aus über 600 Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen verschiedenster migrationspolitischer NGOs und Initiativen

Weitere Unterzeichner*innen

NSU Watch Sachsen
glokal e.V.
NSU Watch NRW
Initiative Keupstraße ist überall, Köln
Antirassistische Initiative Berlin, Berlin
NETZWERK FÜR (RASSISMUS)KRITISCHE MIGRATIONSFORSCHUNG: REPRÄSENTATION, COMMUNITY & EMPOWERMENT, Univerität Bremen
Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg
Initiative für die Aufklärung des Mordes an Burak B., Berlin
Ünal Zeran, Rechtsanwalt Hamburg
Jana Häberlein, Sozialwissenschaftlerin Basel
Maurice Stierl, Visiting Assistant Professor, UC Davis
Stephan Scheel, Post-Doctoral Researcher, London
Daniel Bendix (PhD), Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Kassel
Katharina Schoenes, Sozialwissenschaftlerin, Berlin/Osnabrück
John Grayson,co-chair SYMAAG, Barnsley U.K.
Jennifer Elrick, Assistant Professor, Montreal
Elena Buck, Politikwissenschaftlerin, Leipzig/Göttingen
Thomas Böwing, Politikwissenschafter Hamburg
Johanna Bröse, Sozialwissenschaftlerin, Tübingen
Maximilian Pichl, rechtspolitischer Referent von PRO ASYL e.V.
Veit Schwab, PhD Candidate, University of Warwick (UK)
Nina Perkowski, Research Fellow, University of Warwick (UK)
Nikolai Huke, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Tübingen
Susanne Spindler, Professorin, Darmstadt
Doris Liebscher, Juristin, Berlin
Lee Hielscher, Kulturanthropologe, Hamburg
Laura Graf, Studentin, Leipzig
Helen Schwenken, Prof. Dr., Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Universität Osnabrück
Sabine Hess, Professorin , Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Universität Göttingen
Katharina König, Mitglied im NSU-Untersuchungsausschuss Thüringen
Silja Klepp, Universität Bremen
Ayse Gülec, Initiative 6. April und Tribunal NSU-Komplex aufflösen
Yaatsil Guevara Gonzalez, PhD Candidate, Bielefeld University
Mathias Fiedler, Kulturanthropologe und Soziologe, Hamburg
Natalie Bayer, Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin, Münchner Stadtmuseum
Katharina Kohl, Freie Künstlerin, Hamburg
Reiner hofmann, Stattkunst, Schwabach
Nanna Heidenreich, Kuratorin & Professorin HFK Braunschweig
Andreas Foitzik, Bruderhaus Diakonie Reutlingen
Annita Kalpaka, Professorin HAW Hamburg
Tobias Linnemann, Bildungswerkstatt Migration&Gesellschaft, Bremen/Berlin
Gülay Gün, Historikerin, Hamburg
Chaoze One, Rapper, Mannheim