Oktober 23, 2013

Interview mit kritnet in der SZ

Hiermit dokumentieren wir ein in Interview von Süddeutsche Zeitung Jetzt! mit kritnet Mitglied Sabine Hess

    Wir verschwenden Potenzial

Interview: Kathleen Hildebrand

Die Migrationsbestimmungen für Menschen bleiben restriktiv. Was aber wäre, wenn Europa seine Grenzen öffnen würde? Ein Gespräch mit der Kulturanthropologin Sabine Hess
Es erscheint paradox, dass trotz der umfassenden Globalisierung von Geld- und Warenströmen die Migration von Menschen nach wie vor streng reglementiert ist. Die Migrationsforscherin Sabine Hess sieht den Grund dafür in einer öffentlichen Debatte, die der Lebensrealität hinterherhinkt. Sie ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen und leitet dort das Labor für Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.

Sieht hier ganz harmlos aus, kostet aber oft genug leben: eine Grenze.

SZ: Ein unwahrscheinliches Szenario: Was würde passieren, wenn Europa morgen alle seine Grenzen öffnete und jeden aufnähme, der kommen will?
Sabine Hess: Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, die Politik tut nur so, als sei das undenkbar. Etliche führende Thinktanks spielen das mittlerweile durch. Neoliberale Wirtschaftsdenker sehen darin zum Beispiel gar kein Problem. Sie finden vielmehr, dass Grenzkontrollen unnötige staatliche Eingriffe sind. Es gibt dazu auch schon viele Papiere wie die Studie „People Flow“, die der überparteiliche britische Thinktank Demos erstellt hat. Auch das Bundesamt für Migration spielt Szenarien für Grenzöffnungen durch. Uns wird nur vorgegaukelt, das sei eine absurde, linksutopistische Forderung. Aber so absurd ist sie gar nicht. Zum anderen ist es ja auch so, dass gar nicht alle hierherkommen wollen. Es ist eine totale eurozentristische Überschätzung, dass alle Migrationsbewegungen der Welt nach Europa führen. Wenn man den globalen Maßstab anschaut, gibt es andere Migrationssysteme, die in die arabischen Staaten führen, in die Ölstaaten und in die boomenden Industrien Lateinamerikas. Nur ein verschwindend geringer Anteil kommt nach Europa.

Wenn die Migration legal besser möglich wäre – würden die Flüchtlingsströme dann nicht wachsen?
Auch wenn es legal würde, gäbe es immer noch die Frage, wer es sich leisten kann, nach Europa zu kommen. Das sind sowieso immer nur die Menschen, die über finanzielle Ressourcen und Netzwerke verfügen, die das Know-how haben, ein solches Migrationsprojekt zu realisieren.

Die Bevölkerungsgruppen, die da übers Mittelmeer kommen sind also gar nicht die Ärmsten der Armen?
Nein, überhaupt nicht, das zeigen alle Studien. Die Ärmsten der Armen können nur regional migrieren. Hierher kommen nur Leute, die bereits Kontakt nach Europa haben, eine Tante oder einen Bruder. Leute aus der Mittelschicht. Wir tun so, als würden wir in einer nicht vernetzten Welt leben, als wären das irgendwelche Fremden, die sich aus irrationalen Gründen oder aus Armut heraus aufmachen und uns überrennen wollen. Aber wir leben in einer hochvernetzten Welt mit internationalen Diasporen, die Produkte der Kolonialzeiten sind. Frankreich, Spanien, Großbritannien und auch Deutschland haben koloniale Geschichten, die bis in unsere Tage reichen.

Wie sieht es mit der Ausbildung der afrikanischen Migranten aus, mit den Sprachfähigkeiten?
Natürlich können viele dieser Menschen Englisch, Französisch oder Spanisch. Deutschland hat da eine Sonderstellung. Es sind auch nicht alle ausgebildete Fachkräfte. Aber es sind Leute, viele davon sehr jung, die ehrgeizig sind, die Mut haben und die aus ihrem Leben etwas machen wollen. Das heißt, wir vergeuden hier ein Potenzial an Leuten, die eigentlich genau das neoliberale Bild des Arbeitnehmers verkörpern, das sich die Wirtschaft wünscht.

Würde es dem Wohlstand von Ländern also nicht schaden, wenn die Grenzen geöffnet würden?
Natürlich würde sich einiges ändern, aber was heißt schaden? Es ist historische Verdrängung zu glauben, wir könnten einen Wohlstand, der aus jahrhundertealter Ausbeutung entstanden ist, einfach für uns behalten. Wir können nicht glauben, dass sich nichts ändert, wenn wir Grenzen öffnen. Aber wir können auch nicht glauben, dass wir ein System, das auf Raub basiert, über Jahrhunderte militärisch sichern können. Die Toten im Mittelmeer zeugen von einem alten Krieg, der gerade unerklärt weitergeführt wird. Vielleicht ist dieses System jetzt an eine Grenze gekommen.

Welche gesellschaftlichen Gruppen würden ein Ende der Migrationsrestriktionen befürworten?
Es gibt seit Jahren einen Streit zwischen Innenministern, Sicherheitspolitikern und den Wirtschaftsinteressen. Vor allem im Zuge der neoliberalen Umstrukturierung des Wirtschaftslebens gibt es Akteure, die für eine globale Arbeitsmobilität plädieren. Weil sie wissen, dass das den Wettbewerb erhöht und die Löhne drückt. Das ist deren Rationalität. Auch in Deutschland gibt es nicht erst seit gestern Kritik an der restriktiven Migrationspolitik. Gerhard Schröders Greencard-Initiative für Computerfachleute war der erste, verkürzte Versuch, auf diese Interessen einzugehen und für spezifische Wirtschaftssektoren eine liberalere Einwanderungspolitik zu ermöglichen. In den Schubladen der EU-Kommission liegen Papiere vom Ende der Neunzigerjahre, welche die Handschrift der Wirtschaftsinteressen tragen: Europa braucht eine junge Arbeitsbevölkerung und deswegen muss man zu einer liberaleren Einwanderungspolitik kommen. Die EU-Kommission hat diese Papiere nur nie durchsetzen können gegen die Innenminister ihrer Mitgliedsländer.

Aber ein Lohndumping im eigenen Land will doch niemand.
Das kann nicht das sein, was wir wollen. Aber da sind die Gewerkschaften aufgefordert, endlich eine andere Politik zu machen als die protektionistisch-nationalstaatliche. Die Gewerkschaften haben sich noch keinen Millimeter weiterbewegt in Richtung Globalisierungszeitalter. Es gab Ansätze einer europäischen Vernetzung von Gewerkschaften oder hier in Deutschland gab es Ansätze der IG Bau für eine Wanderarbeitergewerkschaft. Die sind alle versandet, weil sie noch kein Lobbying in den Gewerkschaftsstrukturen haben.

Würde eine Erleichterung der Migration nicht den afrikanischen Brain-Drain befördern und den Kontinent seiner Entwicklungsmöglichkeiten berauben?
Die Brain-Drain-Debatte ist meiner Meinung nach auch ein Fake. Auch die südlichen Länder haben es verstanden, Migration als politischen Trumpf ins Spiel zu bringen. Und den spielen sie über die Brain- Drain-Debatte aus. Es ist auch ihr gutes Recht zu sagen: Uns werden über die Mobilität auch Fachkräfte abgezogen. Wobei die Debatte schon viel weiter ist: Sie ist schon längst nicht mehr beim Brain-Drain, sondern mittlerweile geht es um Brain-Gain. Die Diaspora-Communitys werden angehalten, vernünftiger in ihren Herkunftsländern zu investieren und ihr Humankapital, ihr Wissenskapital zurückzubringen. Die Länder wissen, dass das nicht mehr über Remigration funktioniert, sondern dass den auswandernden Leuten flexiblere Modelle angeboten werden müssen – hin zu einer zirkulären Migration. Migration stellt ein Kapital dar und zwar nicht nur für die Herkunftsländer, sondern letztendlich für die ganze internationale Gemeinschaft.

Sind Migranten also ein Wirtschaftsfaktor für die Herkunftsländer?
Länder wie Mali wissen, dass sie von ihren Migranten abhängig sind, was die Auslandsdevisen angeht. Die sogenannten Migra-Dollars in Mali, welche die Migranten zurücküberweisen, bilden ein eigenes Budget. Auch die Weltbank und die EU sehen Migration in Zeiten der zurückgehenden Entwicklungshilfe als neuen Entwicklungsfaktor. Migrantische Diasporen werden genutzt, um die sinkende internationale Entwicklungshilfe auszugleichen.

Wird Migration in den Herkunftsländern auch als Versagen des eigenen Landes betrachtet?
Dazu gibt es ganz unterschiedliche Positionen. Es gibt Länder wie die Philippinen oder Sri Lanka, die Migration ihrer Arbeitskräfte als Teil ihrer nationalen Arbeitsmarktpolitik betreiben. Es gibt auch Länder, die das nicht so gerne sehen und als Verrat konnotieren. Die drängen dann auf einen sehr engen Rückbezug zu den Herkunftsländern. Aber viele Länder tun alles dafür, ihre Migranten auf irgendeine Weise zu halten und neue Transnationalitätsmodelle zu entwickeln. Da sind viele Herkunftsländer viel fortschrittlicher und eher bereit, neue postnationale Modelle zu entwickeln als die sogenannten Zielländer. Es gibt viele Rechtsgebiete, die überarbeitet werden müssen, um den Auswanderern trotzdem noch die Partizipation im Herkunftsland zu ermöglichen – sie zurückzubinden und sie zu transnationalen Erdenbürgern zu machen.

Im deutschen Einwanderungsgesetz gibt es den Paragrafen 18c, der es Drittstaatlern erlaubt, für ein halbes Jahr in Deutschland nach Arbeit zu suchen. Wieso nutzen das nicht mehr Menschen?
Das würden Sie in Nigeria oder im Kongo nicht genehmigt bekommen. Die restriktive Visa-Politik, die Deutschland fährt, ist ein Teil des Problems, wieso so viele afrikanische Menschen diese wahnsinnig gefährliche Strecke über das Mittelmeer machen – weil Afrikaner fast kein Visum bekommen. Die Visa-Zahlen zeigen ganz eindeutig, dass alle weißen, osteuropäischen, südostasiatischen und erst recht die westlichen Länder bei Visa-Zahlen etwa ein Dutzend Mal stärker repräsentiert sind als die afrikanischen Länder. Da gibt es ein rassistisches Vorurteil: Schwarze Leute sind arm, die wollen ihr Visum nur nutzen, um nach Deutschland zu migrieren und hier zu bleiben. Zum anderen reden wir ja auch über Flüchtlinge. Über Leute, die nicht lange planen können und keine Zeit für langwierige bürokratische Prozeduren haben. Für die ist das natürlich sowieso nichts.

Länder wie die USA, Kanada, Australien knüpfen Einwanderung an ein Punktesystem. Wäre das eine Alternative?
Natürlich würden Punktesysteme zumindest Transparenz herstellen und die Arbeitsmigration liberalisieren. Dass das kein humanitärer Weg ist, ist klar. Er unterliegt auch den ökonomischen Rationalitäten der jeweiligen Länder. Aber es wäre eine Einwanderungspolitik, die nicht nur auf restriktiven Vorstellungen beruht.